DIE WELT IST AUF PAUSE GEDRÜCKT

Ich träume, dass ich eine Treppe hinunterfalle. Es gibt einen lauten Knall – dann nur noch Stille. Ich warte darauf, aufzuwachen. Doch dies ist kein Traum. Ich bin wach, aber die Realität, die reale Vorstellung von dem, wie es sein müsste, ist weg.

  • Die Welt ist auf Pause gedrückt, kein Ton, nur ein Standbild. Menschenleere Straßen, in gespenstische Stille getaucht. Mein rational geprägtes Gehirn kann das Gesehene nicht verarbeiten: Autos, die aus meterhohen Stapeln aus Bäumen, Weinfässern und Müll herausragen. „Wo kommt das alles her, welche Kraft hat hier gewirkt, was ist hier passiert?“, frage ich mich immer wieder. Meine Orientierung sagt mir, die Ahr muss zu meiner Linken liegen, aber zu sehen ist sie nicht. Wie weit müssen die Naturgewalten gewirkt haben? Meine Vorstellungskraft ist überlastet, mein Kopf fühlt sich dumpf an, wie ein Film, stumm geschaltet, weil die Bilder allein schon übermächtig sind. Ich funktioniere nur noch.

  • „Walporzheimer Alte Lay 2018“ steht auf den Schlamm verschmierten Etiketten der Weinflaschen, die neben zwei Weingläsern am Kreuz Ecke Walporzheimer Straße/Pfaffenbergstraße stehen. „Was war denn hier los? Überbleibsel eines Gelages?“, denke ich und schaue mich um. Kurios, an welche Details sich das menschliche Gehirn erinnert, wenn die Welt plötzlich stillsteht. Dazu dieser Geruch, den du nie wieder aus der Nase bekommst. Dieses Gemisch aus Öl, Gas, Alkohol, Fäkalien und Verrottung. Ein Gestank, der sich in jeder Pore festzusetzen scheint, durch jede Faser dringt.

    Dieser Geruch wird für mich untrennbar verbunden sein mit jenem Tag, der mein Leben für immer verändern sollte.

Ich funktioniere nur noch.

Tag 1 | 15. Juli 2021

Es ist die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 als eine nie dagewesene Sturzflut in der größten Naturkatastrophe der deutschen Nachkriegszeit im Ahrtal 134 Menschen in den Tod und unzählige Gebäude, Autos, Straßen, Brücken, Wohnwagen und die greifbare Vergangenheit zigtausender Menschen in einem mörderischen Strudel mit sich reißt – und in ihrer Konsequenz auch für eine tiefgreifende Zäsur in meinem bisherigen Leben sorgt.

Ich bin kaputt.
Durch.
Bis auf die Knochen durchnässt.

Der andauernde Starkregen hat auch unsere Reitanlagen unter Wasser gesetzt. Stress und Maloche pur in den vergangenen 48 Stunden lassen mich um 22 Uhr erschöpft ins Bett fallen. Trotzdem kann ich kaum schlafen, wache um 3, 4 Uhr schon wieder auf, chatte mit Wilhelm. Sonst kommunizieren wir über Nachrichten, doch dieses Mal greift Wilhelm zum Hörer. Es muss wichtig sein. „Hast du schön gehört, was im Ahrtal und der Eifel los ist?“, will er von mir wissen. „Keine Ahnung“, muss ich zugeben. Zu sehr haben mich die Ereignisse auf unseren eigenen Höfen beschäftigt. Schnell fasst Wilhelm das Geschehen zusammen und beschließt: „Ich fahr‘ dahin“. Schon beim Hochwasser in Dresden hat er 2002 und 2013 geholfen, „aber das hier ist anscheinend noch schlimmer“. Mit sieben Mitarbeitern, Lkw, Radlader, Sprinter, Notstromaggregat, Kabeln, mehreren Motorsägen und ausreichend Kraftstoff reist er von Fulda ab. „Wenn du fährst, fahr ich auch“, verspreche ich. Im Gepäck habe ich nur das Nötigste. Gummistiefel, noch nass vom Einsatz der vergangenen Tage, feste Schuhe, eine Jacke zum Wechseln, was zu trinken und zwei Äpfel.

Meine Vorstellung:
Ein bisschen Schlamm schippen,
helfen, Zufahrtswege räumen,

damit die Rettungskräfte zu Menschen und Häusern kommen. Schon am Abend will ich wieder zuhause sein. Noch sollte ich nicht ahnen, dass dies erst drei Tage später passieren würde. „Liebe Freunde, meine Stiefel sind noch nass von letzter Nacht, aber ich fahr‘ jetzt los Richtung Haribo, da ist Treffpunkt mit Wilhelm Hartmann und von da aus werden Fahrzeuge koordiniert und Hilfskräfte. Jeder kann irgendwo helfen, sei es finanziell, oder eben per Hand oder mit Maschinen.
Das funktioniert alles nur, wenn wir zusammenstehen“, lautet um 9.46 Uhr der letzte Aufruf an meine Community, bevor ich den Zündschlüssel umdrehe und den Kleinen Schwarzen samt Hakenlift mit Erdmuldencontainer vom Hahnenhof gen Ahrtal lenke, nichtsahnend, dass ich mit dieser Fahrt mein bisheriges Leben hinter mir lassen sollte. Knapp ein Jahr später ist nichts mehr, wie es war: das Ahrtal, mein Leben und ganz besonders Ich.